Department Kunstwissenschaften
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Tanzmusik für Stadtpfeifer im 16. Jahrhundert: Die Sammlungen der Brüder Hess

Workshop und Gesprächskonzert mit dem Ensemble [hanse]Pfeyfferey

09.06.2024 – 10.06.2024

  • Ort: Orff-Zentrum, Kaulbachstr. 16
  • Datum: Workshop am 9. Juni und Gesprächskonzert am 10. Juni 2024

Im Jahr 1555 veröffentlichten Bartholomäus und Paul Hess in Breslau zwei Musikdrucke, die in der musikwissenschaftlichen Forschung bislang nur wenig Beachtung fanden. In den Sammlungen Etlicher gutter Teutscher und Polnischer Tentz, biss in die anderthalbhundert (RISM B/I 1555/34; 1555a) und Viel feiner lieblicher Stucklein Spanischer Welscher, Englischer Frantzösischer composition und tentz (RISM B/I 1555/35; 1555b) brachten die Brüder erstmals im deutschen Sprachraum in größerem Umfang mehrstimmige Tanzmusik im Druck heraus. Dabei handelt es sich wohl weitgehend um die Bearbeitung präexistenter Melodien oder polyphoner Sätze, nicht nur aus dem zentraleuropäischen Raum, sondern auch aus Italien, Spanien und Frankreich. Explizit als Tanzmusik gekennzeichnete Sammlungen zu veröffentlichen, war in der Mitte des 16. Jahrhunderts auch aus europäischer Perspektive ein neues Phänomen. Nachdem Pierre Attaignant im Jahr 1529 mit seinen Dixhuit basses dances erste Versuche in diesem Bereich gestartet hatte, nahm die Produktion von Tanzmusik im Druck erst in den 1540er Jahren zunehmend Fahrt auf – gut vier Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ersten gedruckten Sammlungen mit mehrstimmiger Vokalmusik. Insbesondere in Frankreich und den Niederlanden erschien nun in größerer Menge Tanzmusik. Davon dürften auch die Brüder Hess inspiriert worden sein, die auf den vielen Reisen, die sie als Hofmusiker unternahmen, viel Repertoire kennengelernt und offenbar auch gesammelt hatten. Die beiden Breslauer Sammlungen sind (auch im internationalen Vergleich) bemerkenswert umfangreich.

In Breslau waren die Brüder Hess in den 1550er Jahren als Stadtmusiker angestellt und sie ließen sich beim Zusammenstellen ihrer Sammlung vom musikalischen Alltag der Pfeifereien größerer Städte leiten. Die Gestaltung von Tanzfesten war (nicht nur im Rahmen von Hochzeiten) selbstverständliche Aufgabe der Ensembles und gerade Mitte des 16. Jahrhunderts wurden die Musiker mit einem immer breiter und kosmopolitischer werdenden Musikgeschmack der adeligen und städtischen Oberschichten konfrontiert. Dieser bestand an den Höfen der habsburgischen Widmungsträger (Erzherzöge Ferdinand und Maximilian) und potenzieller vermögender Käufer*innen wohl sowohl aus deutschen und polnischen (Hess 1555a, 155 Tänze) als auch aus italienischen, spanischen, französischen und englischen Tänzen (Hess 1555b, 322 Tänze). Insbesondere die Vorliebe für italienische Tänze dürfte für viele Musiker eine Repertoireerweiterung notwendig gemacht haben. Im Vorwort zur internationalen Sammlung (Hess 1555b) verweisen die Brüder Hess folgerichtig auch noch einmal explizit darauf, dass dieses Repertoire vorher im deutschen Sprachraum noch nie gedruckt worden sei.

Dass die Sammlung in der Forschung und Musikpraxis kaum Beachtung fand, dürfte auch an der Überlieferungssituation liegen. Stimmbücher haben sich nur in zwei Bibliotheken erhalten (Augsburg ATVB und Wroclaw A). Die Discantus-Stimme fehlt vollständig. Aus diesem Grund bildete sich an der Kunstuniversität Graz eine Forschungsgruppe (Laura Dümpelmann, Dávid Budai, Linnea Hurttia und Prof. Susanne Scholz), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Cantus-Stimme des ersten Bands zu rekonstruieren. Dabei konnte auf die Vorarbeiten von Armin Brinzing und Bernhard Thomas zurückgegriffen werden. Brinzing rekonstruierte 23 der 155 Tänze, wobei er sich auf das Repertoire beschränkte, zu dem Konkordanzen auffindbar waren. Thomas brachte in praxisorientierten Editionen des Londoner Pro Musica Verlags eine Handvoll weiterer Stücke heraus. Das Grazer Projekt, das vom Land Steiermark und der Stadt Graz gefördert wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu allen 155 Stücken eine neue Diskantstimme zu rekonstruieren, wobei die bereits vorgelegten konkordanzbasierten Rekonstruktionen einbezogen und im Licht des Sammlungskontexts kritisch evaluiert werden. Eine besondere Herausforderung dieses Projekts war, dass alle Tänze in Hess 1555a ohne Titel publiziert wurden, was die Suche nach bislang unbekannten Konkordanzen zusätzlich erschwerte. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden in einer Open-Source-Online-Ausgabe zusammengefasst, die sich sowohl an Wissenschaftler*innen als auch an Interpret*innen richtet. Aktuell befindet sich die Edition im online frei zugänglichen Phaidra-Archiv der Kunstuniversität Graz. Begleitend zur Rekonstruktion wurde eine Datenbank zur Sammlung angelegt, die Informationen wie Schlüsselung und Finalis der einzelnen Tänze, Konkordanzen und (Arbeits)titel, sowie eine Aufstellung der rhythmischen Binnengliederungen der Sätze enthält. Mit Hilfe dieser Datenbank waren erste Analysen zu den rhythmischen Strukturen der »auf teutsche tentz gerichteten« Kompositionen möglich, die unter anderem dabei helfen könnten, Tanzschritte und Choreographien zu rekonstruieren.

Anlässlich der Veröffentlichung der Rekonstruktion des ersten Bandes der Hess’schen Tanzmusiksammlung veranstaltet eine Arbeitsgruppe (Laura Dümpelmann, Dávid Budai, Katharina Preller und Moritz Kelber) am 09. Juni 2024 einen Workshop in München. Im Rahmen dieser eintägigen Veranstaltung sollen die Rekonstruktionen vorgestellt und besprochen werden. Darüber hinaus werden die beiden Sammlungen der Brüder Hess in einen größeren musik- und kulturhistorischen Kontext eingeordnet. Dabei sollen auch grundsätzliche Fragen gestellt werden – etwa nach der Methodologie der Rekonstruktion von Tanzmusik des 16. Jahrhunderts, nach den sozialen und politischen Rahmenbedingungen in Breslau um das Jahr 1555 und nach den Informationen, die gedruckte Sammlungen von Tanzmusik über Tanzschritte Choreographien enthalten.